Damals und heute.

Ein Leben mit Musik. Sie trafen sich zufällig auf der Straße, zwei Jungs, irgendwann in den Siebzigern. Detlev Cremer hatte für die E-Gitarre als Verstärker ein Radio. Jochen Rausch jagte die Philicorda-Heimorgel seines Vaters durch Verzerrer, der erste Synthesizer selbst gelötet in einer Zigarrenkiste. Seither verschiedene Bands, innovativ, Ende der Siebziger Die Helden, New Wave mit deutschen Texten. Aber immer wieder die Konzentration auf die Musik zu Zweit. Freunde, Gesinnungsbrüder, zwischen Pop und Experiment. 

1981/82 das erste Stahlnetz-Album: „Wir sind glücklich“. Minimale Musik, Synthesizer, Rhythmusmaschinen, feine Melodien, düstere Texte, zu ironisch, zu dunkel, zu filigran für die längst in betrunkener Fröhlichkeit verebbte neue deutsche Welle. Das Album produziert von Conny Plank, dem damals wichtigsten deutschen Musikproduzenten (Kraftwerk, Can, DAF, Eurythmics, Ultravox). „Vor all den Jahren“, ein Indie-Hit. Dann Stille. 

In den Nuller-Jahren zwei Lebenszeichen: Jochen Rausch und Detlev Cremer vertonen als LEBENdIGITAL Gedichte des deutschen Beatpoeten Jörg Fauser (Fausertracks), „…zwischen Song und Gedicht – einzigartig“ (Der Spiegel).  2008 das Album Lindenbergtracks. Udo Lindenberg spricht seine Texte, Jochen Rausch und Detlev Cremer setzen Lindenbergs Stimme und seine Worte in einen komplett neuen Kosmos aus Worten, Grooves, Elektronik. Holger Czukay spielt auf einem Track Bass. Lindenberg nennt die Platte „höchstes Exotentum“. 

In den Zehnerjahren Rückbesinnung auf Stahlnetz. Eine nie erkaltete Liebe. Rausch inzwischen auch Schriftsteller, Grimmepreisträger, Deutscher Fernsehfilmpreis. „Man kann nicht einfach da weitermachen, wo wir vor Jahren aufhörten“, sagt Cremer. Sessions, Versuche, Experimente. Minimal ja, aber anders als einfach nur sparsam eingesetzte Instrumente. Dann die Idee: minimal nicht nur im Sound, die Songs, kaum länger als eine Minute, Texte, nie mehr als ein Satz, manchmal nur ein, zwei Worte. Reflektion der Flüchtigkeit im Digitalen, scrollen, anspielen, die Timeline überfliegen, immer in Hast, ein endloser rasanter Stream aus Worten, Musik, News, Clips, Gifs, Headlines, eine Kakophonie, der Dauerbeschuss der Sinne.

Music for Smartphones – 50 Tracks, minimale Inseln im rasanten Strom unserer Zeit, eine neue Form von Song, reduziert in Wort, Musik, Länge, Sound, ein bemerkenswertes Experiment, ein Gegenentwurf. Zu jedem Song ein Video, eine Einstellung, kein Schnitt, aufreizend langsam, ein gewagter Kontrast zu der Schnelligkeit der Tracks: Gesichter, die vom Leben erzählen; Vögel, die um Brotkrumen flattern; eine vorbeigleitende Landschaft; eine unbefahrene Autobahn. Momente der Stille, des Friedens, der Ruhe.

50 Tracks, schnell und ungeheuer langsam zugleich, ein Wechselbad aus Emotionen und Klängen, psychedelisch, poppig, Klavier, Mellotron, analoge Synthesizer, 70er-Jahre-Orgeln. Getragen von der synthetischen Stimme Marthas, einer Frau, die es gar nicht gibt. Gelegentlich tanzbar, manchmal Soundkaskaden, eine Spiegelung des Realen, ein bizarrer, außerordentlicher Kosmos. 

Einzig die Single-Auskopplung „Schwebebahn“ ist länger als mit zwei Minuten und dreiundfünfzig Sekunden deutlich länger als alle anderen Tracks, eine Hommage an die Stadt Wuppertal, wo Rausch und Cremer leben. Aber auch eine Verneigung vor Kraftwerk aus dem nur dreißig Kilometer entfernten Düsseldorf, ohne die es die deutsche elektronische Musik, die um die Welt ging und alles und jeden in diesem Genre beeinflusste, wohl nie gegeben hätte.